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Gemeinderat, 52. Sitzung vom 29.04.2014, Wörtliches Protokoll  -  Seite 19 von 79

 

auch von steigender Armut in Europa.

 

Sie kennen alle die Zahlen: 26 Millionen Arbeitslose, 125 Millionen Armuts- und Ausgrenzungsgefährdete in Europa, in manchen Regionen fast jeder zweite Jugendliche, jede zweite Jugendliche arbeitslos, das geht uns alle an. Der soziale Zusammenhalt in Europa ist gefährdet. Und auch wenn die Arbeitslosenzahlen in Wien weit entfernt sind von jenen anderer europäischer Städte - Paris, vor allem französische Städte, um nicht immer Spanien und Griechenland zu nennen, wo die Austeritätspolitik der EU-Troika in den letzten Monaten verheerende Auswirkungen gezeigt hat -, sind Wiens ArbeitnehmerInnen von der Politik der Europäischen Union trotzdem massiv betroffen, sei es einerseits durch die Folgen des Fiskal- und Stabilitätspaktes, über den wir auch in diesem Haus schon öfter auf Antrag der GRÜNEN diskutiert haben, der dringend nötige Investitionen in die Bildung, in das Sozialsystem und in den Arbeitsmarkt verhindert.

 

Wir sehen das gerade bei der Budgetrede des Herrn Vizekanzlers und Finanzministers, die jetzt gerade im Nationalrat stattfindet, die eindeutig Antworten auf die wesentlichen Zukunftsfragen auch der Bildung, des Arbeitsmarktes, des Sozialsystems vermissen lässt. Kein Wort zum Ausbau der Bildung, kein Wort zu einem so dringend nötigen gesetzlichen Mindestlohn, kein Wort zu der dringend nötigen Umverteilung zwischen Reich und Arm zum Beispiel durch eine Vermögensbesteuerung, kein Wort zu einer intelligenten, neuen Arbeitszeitpolitik, denn ich denke, der 12-Stunden-Tag ist sicher nicht die richtige Antwort auf die Probleme der Zeit. Österreich ist mit 43 Wochenstunden zum Beispiel EU-Spitzenreiter bei der Arbeitszeit. Da wäre es doch höchst an der Zeit, wie es auch das WIFO und andere ExpertInnen fordern, wieder über eine generelle Arbeitszeitverkürzung nachzudenken. Ich freue mich zum Beispiel, dass auch der SPÖ-Landesparteitag am Samstag diese uns GRÜNEN auch wichtigen Fragen der Arbeitsumverteilung, der Arbeitszeitverkürzung diskutiert hat. Ich denke, wir könnten da auch weiterhin darüber nachdenken (Beifall bei GRÜNEN und SPÖ.), und zwar laut darüber nachdenken.

 

Der Arbeitsmarkt ist aber auch in anderer Weise durch die EU-Politik beeinflusst. Wir haben an dieser Stelle auch schon öfters über die Deregulierungspolitik der Europäischen Kommission diskutiert, die Druck auf die Privatisierung von öffentlichen und kommunalen Dienstleistungen ausübt. Wir in Wien spüren das beim sozialen Wohnbau, bei Fragen der Infrastruktur, bei Fragen der Ausgliederungen. Die Arbeitsmärkte werden durch die Europäische Union beinhart flexibilisiert. ArbeitnehmerInnenschutzrechte, die in Europa hart erkämpft wurden, werden abgebaut, um den Wettlauf um die niedrigsten Standards in Europa zwischen den Mitgliedsstaaten zu eröffnen. Die Kommission setzt auf die sogenannte Flexicurity. Sie kennen das Schlagwort. Flexicurity soll heißen flexibility and security, also Flexibilität und soziale Sicherheit. Eingelöst wird nur die Flexibilisierung, die einen weiteren Abbau von ArbeitnehmerInnenschutzrechte bringt. Die soziale Sicherheit wird seitens der EU nicht eingelöst. Aktuelle Beispiele, die Bedrohungen für ArbeitnehmerInnenschutzrechte bringen und auch auf Wien massive Auswirkungen haben, sind das TTIP, das Transatlantische Freihandelsabkommen, zu dem der Wiener Gemeinderat auch schon einen Antrag gestellt hat, dass das eine Gefährdung sämtlicher ArbeitnehmerInnen-, KonsumentInnen- und Sozialschutzstandards in Europa wäre, die, wie schon gesagt, in den letzten Jahren mühsam von den Gewerkschaften, von der Zivilgesellschaft, von den GRÜNEN, auch von Teilen der Sozialdemokratie mühsam erkämpft wurden.

 

Oder auch der Wettbewerbspakt, der ja jetzt nur wegen der Europawahl auf Eis gelegt wird, aber auch weiteren Druck auf Löhne, auf Privatisierungen, auf Pensionssysteme bringen würde. Kein Wunder, steht die Europäische Kommission doch einer aktuellen Studie zufolge zu 70 Prozent unter dem Einfluss der Finanzindustrie. Die Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft kommen hier bei der Einflussnahme auf die Europäische Kommission nicht vor. Die Mittelausstattung ist 170 zu 4 von Finanzindustrie zu Gewerkschaften. Das zeigt auch, welche Kräfte hier am Werk sind. Es zeigt, dass es uns nicht egal sein kann, wer der nächste Kommissionspräsident oder Kommissionspräsidentin wird. Die GRÜNEN kämpfen für fortschrittliche, neue Allianzen in Europa, die ein soziales Europa und starke ArbeitnehmerInnenrechte zur Priorität erheben. Kommunalpolitik ist Europapolitik.

 

Deshalb ist es unsere gemeinsame Verantwortung als GemeinderätInnen, hier für ein soziales Europa, für einen Kurswechsel in Europa und eine europäische Sozialunion zu kämpfen.

 

In Wien läuft derzeit noch bis 29. Mai - vielleicht haben es einige von Ihnen schon gesehen, wir bieten nächste Woche eine Führung an, wenn Sie spontan Lust bekommen - die Ausstellung „Die Arbeitslosen von Marienthal“. Die meisten von Ihnen werden die zugrundeliegende Studie aus dem Jahr 1933 von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel kennen. Sie war bahnbrechend und hat bis heute Bedeutung. Auf Grund der Wirtschaftskrise verloren damals 1929/1930 fast alle Bewohnerinnen/Bewohner eines Dorfes in der Nähe von Wien durch den Konkurs eines einzigen Industriebetriebes ihren Arbeitsplatz. Ich denke, anlässlich des Tages der Arbeitslosen und des Tages der Arbeit ist es wert, darüber nachzudenken, was wir heute aus der Studie der „Arbeitslosen von Marienthal“ lernen können. Die Studie zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie Arbeitslosigkeit zu Mutlosigkeit, zu Hilflosigkeit führt, der Rhythmus des Lebens durch das damals vierzehntägige Arbeitslosengeld, Arbeitslosenunterstützung bestimmt wird, Arbeitslosigkeit und Gesundheitszustand, insbesondere der Gesundheitszustand der Kinder damit einen eindeutigen Zusammenhang haben und auch die Möglichkeit der Betroffenen, der Arbeitslosen und zum Teil auch ihrer Familie zu einer aktiven Herangehensweise ihrer Probleme dramatisch reduziert wird, je länger die Arbeitslosigkeit dauert. Seit damals hat sich natürlich vieles verändert, keine Frage. Die Strukturen und die Dynamik des Arbeitsmarktes sind heute völlig andere. Mehr Frauen sind am Arbeitsmarkt integriert. Der Bildungsstand ist ein

 

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