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Gemeinderat, 39. Sitzung vom 20.06.2023, Wörtliches Protokoll  -  Seite 29 von 110

 

in unserer Gesellschaft - Unsicherheit, Krisen, in denen viele Menschen in unserem Land die Politik nicht als UnterstützerIn empfinden. Mehr noch: Diese Krisen verstärken eine Entwicklung, die wir schon etwas länger beobachten können, nämlich dass die Bevölkerung immer weniger Vertrauen in die repräsentative Demokratie und in die politischen Parteien hat. Das hat meiner Meinung nach sehr, sehr viele Ursachen, auf drei davon möchte ich zu Beginn eingehen:

 

Da ist einerseits die soziale Ebene: Die Schere zwischen Arm und Reich in unserem Land geht weiter auseinander. Das tut sie seit Jahren. Während die oberen 10 Prozent von den Krisen, die ich vorhin genannt habe, kaum etwas spüren müssen, weiterhin ihren Wohlstand ausbauen, vielleicht sogar Übergewinne kassieren, verlieren immer mehr Menschen den Boden unter den Füßen. Armut wird plötzlich für viele eine reale, akute Gefahr. (GR Mag. Manfred Juraczka: Wie definiert ihr eigentlich Übergewinne?) Und es sind diese vielen, die Tag für Tag hart für sich, für ihre Familien und die Gesellschaft arbeiten, deren Leben unter Druck gerät. Es sind auch Kinder und Familien, die verstärkt finanzielle Engpässe und Armut unmittelbar und täglich spüren und deren Zukunft auf dem Spiel steht, insbesondere auch durch die Klimakrise.

 

Diese Ungerechtigkeiten lassen Zweifel an der Handlungs- und Lösungsfähigkeit der Politik aufkommen. Das muss und soll uns alle betreffen. Zweifel nämlich dann, wenn der Eindruck entsteht, dass dieses politische System, die Politik nicht in der Lage ist, Antworten auf die drängenden Probleme der Menschen zu finden. Es gibt ein Zitat von Willy Brandt, das nehme ich mir sehr zu Herzen, und es lautet: „Die gesamte Politik kann sich zum Teufel scheren, wenn sie nicht im Stande ist, das Leben der Menschen zu verbessern.“ - Im Umkehrschluss hat das einen demokratiepolitischen Aspekt, nämlich Vertrauensverlust.

 

Zur Gleichheit gibt es auch einen zweiten Zusammenhang, den wir empirisch nachvollziehen können und auf den Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler immer wieder hinweisen: Je weniger Ressourcen Menschen haben, desto schlechter ist ihre soziale Lage, und je schlechter ihre soziale Lage ist, desto seltener nehmen sie an politischen Entscheidungsprozessen teil. Das mischt sich dann noch zu der subjektiven Wahrnehmung fehlender Anerkennung, und so wird aus sozialer Ungleichheit politische Ungleichheit. - So viel zu meiner ersten Anmerkung. Politische Ungleichheit haben wir uns in der Wiener Fortschrittskoalition zu einem zentralen Thema gemacht, einem Thema, bei dem wir uns entschlossen haben, es verstärkt zu bearbeiten und dagegen vorzugehen.

 

Jetzt wissen wir auf der einen Seite, dass der Handlungsspielraum auf Landesebene begrenzt ist, etwa, was das Wahlrecht oder das Staatsbürgerschaftsrecht betrifft - darauf komme ich noch einmal zurück -, aber wir haben uns trotzdem oder vielleicht sogar gerade deshalb ein klares Ziel gesetzt: Möglichst viele Menschen, die von der Entscheidung der Wiener Politik betroffen sind, in diese Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. Ich bin überzeugt davon, dass Menschen dort, wo sie sicher sein können, dass ihre Anliegen gehört werden, gerne leben. Ich bin überzeugt davon, dass, wer sich gemeinsam für etwas einsetzt, wer mit anderen für etwas kämpft, Selbstwirksamkeit spürt, Verantwortung übernimmt und erkennt, dass er oder sie nicht alleine ist, sondern sich als Gemeinschaft, als Teil der Gemeinschaft erlebt. Das bedeutet, unser Zusammenleben wird besser, je mehr von uns mitreden können.

 

Es kann auch in die umgekehrte Richtung gehen, und da bin ich beim zweiten Thema, das ich vorab ansprechen möchte, denn je leiser die Stimme der vielen ist, desto lauter sind jene der Feindinnen und Feinde der Demokratie. Das ist dann Nationalismus, der Ruf nach starken Männern, das sind Phänomene, die unsere Gemeinschaft gefährden, ebenso wie eine Politik der Angst, die Sündenböcke sucht und nicht Lösungen. Wir erleben das gerade: Auf Grund der Teuerung, ich habe es schon erwähnt, breiten sich - zu Recht - soziale Abstiegsängste aus, und sofort sind die Brandstifter bei der Stelle, die dann solche Ängste ausnützen, um die eigene Agenda voranzubringen, und diese Agenda ist dann oft, das Vertrauen in die konstruktive Kraft der Demokratie zu schwächen.

 

Dagegen wollen wir in Wien vorgehen. Wir wollen alle Lebensbereiche mit Demokratie fluten, wie es Bruno Kreisky einmal formuliert hat, und wir brauchen sie dafür, die Menschen in unserer Stadt, die Stimmen der vielen.

 

Das betrifft das dritte Thema, das ich vorab noch ansprechen möchte und das, finde ich, im Zusammenhang mit Demokratie in diesem Haus auch immer wieder angesprochen werden muss, das ist das Thema Wählen - als eine der wichtigsten Formen der politischen Partizipation. Viele Menschen sind in unserer Stadt, in unserem Land von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen, und das alleine wegen ihrer Herkunft. Bei der Gemeinderatswahl war es jeder dritte Wiener oder jede dritte Wienerin im wahlfähigen Alter, der oder die nicht wahlberechtigt war und damit im politischen Geschehen nicht repräsentiert ist. Das wird übrigens noch viel dramatischer, wenn man sich bestimmte Berufsgruppen anschaut: In Wien sind 60 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter von Wahlen ausgeschlossen, bei den Hilfsarbeiterinnen und Hilfsarbeitern sind es 82 Prozent. Das sind Menschen, die unser Land am Laufen halten, die unsere Wirtschaft am Laufen halten, die Tag für Tag für uns in unserer Stadt arbeiten! Mitbestimmen dürfen sie trotzdem nicht, weil Österreich ein reaktionäres Staatsbürgerschaftsrecht hat, das von Schikanen nur so strotzt! (Beifall bei SPÖ und NEOS sowie von GR Ömer Öztas.)

 

Ich halte das für einen nicht hinnehmbaren Zustand, und ich möchte daher auch als Vorbemerkung sagen, dass ich nicht müde werde, mich für ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht einzusetzen, das Hürden für arbeitende Menschen oder hier geborene Kinder abbaut, das dafür sorgt, dass mehr Kinder demokratisch mitbestimmen können, mehr Menschen demokratisch mitbestimmen können, mehr Wienerinnen und Wiener demokratisch mitbestimmen können.

 

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