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Landtag, 51. Sitzung vom 10.11.2020, Wörtliches Protokoll  -  Seite 7 von 8

 

ihre Rechtsstellung im Gesamtstaat betrifft. Das betrifft zum Beispiel London, aber auch Berlin oder Basel haben ihre Stellung im Gesamtstaat neu geordnet und neu definiert.

 

Der Wiener Gemeinderat konstituierte sich also am 10. November 1920 in seiner neuen Funktion als Landtag und stimmte der neuen Verfassung Wiens zu. Dass noch einiges zu diskutieren war und darüber gesprochen werden musste, zeigt allein die Tatsache, dass die Sitzung um 15 Uhr begonnen, aber bis spät in die Abendstunden gedauert hat. Das zeigt, dass noch wirkliche Diskussionen stattgefunden haben.

 

Es ist ein ganz witziges Detail am Rande, dass die Drucksorten, die in dieser Sitzung verwendet wurden, noch aus der Zeit der Monarchie stammten und handschriftlich korrigiert werden mussten. Exemplare davon finden sich auch heute noch im Wiener Stadtarchiv.

 

Worin liegt die Bedeutung dieser Trennung von Niederösterreich und des neuen Status als ein Bundesland? Es war auf der einen Seite die Voraussetzung für die wirtschaftlichen und sozialen Gestaltungsmöglichkeiten der Stadt, für autonome Entscheidungen über Steuern und Abgaben und eröffnete einen Handlungsspielraum in allen Bereichen der Kommunalpolitik, vor allem in der Wohnungs-, aber auch in der Sozial- und Bildungspolitik. Politisch von großer Bedeutung war die Entsendung von eigenen Vertretern und eigenen Mandataren in den Bundesrat, wo man eben auf diesem Weg auch auf die Gestaltung der Politik im größeren, gesamtstaatlichen Rahmen Einfluss nehmen konnte.

 

In den nächsten Jahren, in unmittelbarer Folge dieser grundlegenden Entscheidung wurden in Wien zum Beispiel 60.000 neue Wohnungen gebaut, eine Maßnahme von ungeheurer Bedeutung, wenn man - der Herr Landeshauptmann hat darauf hingewiesen - davon ausgeht, dass um die Jahrhundertwende noch ein guter Teil der Wiener Bevölkerung eigentlich unterirdisch gelebt hat, in Keller- und Souterrainwohnungen und unter Bedingungen, die wirklich schwere Beeinträchtigungen für die Gesundheit bedeutet haben.

 

Ich selbst habe eine enge Beziehung zu diesen Programmen: Meine Großmutter hatte eine Wohnung im sogenannten Metzleinstaler Hof, das war einer der ersten großen Gemeindebauten, die in der Zeit von Reumann gebaut wurden, nebenan der Reumannhof. Die Großzügigkeit dieser Wohnanlagen, die ja bis heute gegeben ist, mit den großen, begrünten Innenhöfen und den ganzen Infrastruktureinrichtungen, die zur Verfügung standen - die großen Waschküchenanlagen, die Badeanlagen, die Stadtbibliothek, und so weiter: Das hat damals schon Sensationswirkung gehabt.

 

Eng verknüpft mit dieser Neuordnung der Situation Wiens war natürlich auch die Entwicklung der Bundesverfassung. Der Name Danneberg ist schon gefallen, er war mit Kelsen eng befreundet, und das Zusammenspiel zwischen diesen beiden Persönlichkeiten hat sowohl auf der Bundesebene als auch für die Stadt große Bedeutung gehabt. Es gab daneben auch große Persönlichkeiten, die diesen Prozess der Neugestaltung getragen haben: Viktor Reumann selbst, Robert Danneberg, Hugo Breitner, Otto Glöckel, nicht zu vergessen Julius Tandler, der als Arzt für das gesamte Gesundheits- und Hygienewesen Wiens verantwortlich war.

 

Wie nachhaltig diese Atmosphäre die Menschen, die daran mitgearbeitet haben, beeinflusst hat, zeigt eine Äußerung von Hugo Breitner, der Österreich verlassen musste und nachher in die USA geflohen ist, und der am 3. Dezember 1943 noch aus seinem kalifornischen Exil schreibt, wie wunderbar diese Erfahrung war, in diesem Kreis ungewöhnlicher, hochstehender Menschen an diesen Projekten und an diesen Programmen mitarbeiten zu dürfen.

 

Ich habe mir in diesem Zusammenhang einen Ausschnitt aus der Antrittsrede vom Bürgermeister Seitz vom 13. November 1923 herausgesucht, den ich Ihnen gerne vorlesen möchte. Ich zitiere: „Wenn man nicht selten die Ansicht vertreten hört, dass Wiens Größe begründet war in seiner Eigenschaft als Sitz eines kaiserlichen Hofes, einer Zentralstelle der Behörden und der Militärgewalt eines großen Staates, so hat die Entwicklung der letzten fünf Jahre gezeigt, dass Wien auch aus eigener Kraft bestehen kann, durch seine große leistungsfähige Industrie, durch das rege und feine Gewerbe, durch seinen blühenden Handel.

 

In jahrhundertelanger Entwicklung ist Wien das geworden, was es heute ist und immer bleiben wird, das Verbindungstor des Westens Europas zum Osten. Unsere Stadt wird aber nicht nur bestehen als ein Wirtschaftszentrum, sondern auch als eine der ersten und ehrwürdigsten Stätten europäischer Kultur und Zivilisation.“ - Zitat Ende.

 

Viel von dem gilt bis heute, und die Errungenschaften dieser Jahre begleiten uns bis heute. Wenn wir darauf stolz sind, dass Wien als Stadt jetzt zehn Jahre hindurch im sogenannten Mercer-Ranking immer als lebenswerteste Stadt der Welt an erster Stelle gereiht wurde, wenn wir stolz darauf sind, dass internationale Delegationen kommen, um in Wien sozialen Wohnbau oder Kommunalpolitik zu studieren, so sind wir stolz auf Dinge, die in diesen Jahren der Neugründung erarbeitet wurden und wofür in diesen Jahren der Grundstein gelegt wurde.

 

Wir sind jetzt am Beginn des 21. Jahrhunderts und trotz dieser historischen Stränge, die bis heute weiterwirken, hat sich die Situation natürlich grundsätzlich verändert. Wien ist heute die fünftgrößte Stadt Europas, entspricht in allen Aspekten den sogenannten drei Ws - Wohlfahrt, Wohlstand, Wohlbefinden in der Stadt - und ist für die neuen Herausforderungen und für die Anforderungen gut gerüstet, die sich für große Städte stellen.

 

Das ist eigentlich das Thema unserer Tage. 3,9 Milliarden Menschen, meine sehr geehrten Damen und Herren, leben weltweit in Städten. Bis 2050 werden weitere 2,5 Milliarden Menschen prognostiziert, das sind 70 Prozent der Weltbevölkerung, die im urbanen Raum leben. Wien ist Gott sei Dank nicht ein Spieler in dieser ganz großen Liga und ich glaube, Sie werden mir zustimmen, dass der Charme von Wien eigentlich darin liegt, dass wir uns in einer bedeutenden internationalen Stadt befinden,

 

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