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Gemeinderat, 5. Sitzung vom 21.9.2001, Wörtliches Protokoll  -  Seite 5 von 105

 

(Beginn um 9 Uhr.)

 

Vorsitzender GR Rudolf Hundstorfer: Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Ich darf Sie zur 5. Sitzung des Wiener Gemeinderats am 21. September 2001 recht herzlich begrüßen.

 

Ich darf die Sitzung für eröffnet erklären.

 

Ich darf weiters mitteilen, dass drei Mitglieder des Hauses entschuldigt sind. Es sind dies Herr GR Ekkamp, Herr GR Kreißl und Frau GR Dr Vana.

 

Ich darf auch mitteilen, dass sich der Herr Bürgermeister mit einer Erklärung zum Wort gemeldet hat und ich darf den Herrn Bürgermeister nun darum ersuchen.

 

Bgm Dr Michael Häupl: Herr Vorsitzender! Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

In wenigen, möglicherweise allzu wenigen, Minuten werden wir uns wieder unseren Alltagsgeschäften zuwenden. Ich halte dies auch für gut so, denn Fassungslosigkeit und Sprachlosigkeit über das Ausmaß der Gewalt und über die Kaltblütigkeit des Vorgehens haben die Zeit vermeintlich stillstehen lassen. Lassen Sie uns daher, bevor wir zu dieser Alltagsarbeit zurückkehren, auch heute noch innehalten.

 

Erst langsam lernen wir zu ermessen, mit welchen Gefühlen die Hinterbliebenen dieser Verbrechensopfer, aber darüber hinaus alle mitfühlenden Menschen in der ganzen Welt seit dem 11. September 2001 leben müssen, mit Ungewissheit - bis heute wissen wir keine genaue Opferzahl -, aber vielfach auch grausamer Gewissheit ab dem ersten Moment, denn moderne Kommunikationstechnik ließ Verwandte einiger Flugzeugpassagiere auf schreckliche Art und Weise den nahen Tod ihrer Lieben mitvollziehen.

 

Es fällt schwer, unserem Mitgefühl Worte zu verleihen. Es ist nahezu unmöglich, die Gefühle der Hinterbliebenen in Worte und Sätze zu kleiden. Mit Schweigen gedachten wir in der vergangenen Woche der Toten, aber wir gedachten vor allem dem unsagbaren Leid der Hinterbliebenen, denen nicht nur die Worte, sondern vor allem die Kräfte fehlen, um mit dem Entsetzen fertig zu werden.

 

Wir haben noch keine Antworten auf viele Fragen, die der entsetzliche Terrorakt des 11. September 2001 an uns richtete. Die Welt kennt zwar die vermutlichen Täter, sie hat aber keine Gewissheit über jene, die das Drehbuch zu diesen furchtbaren Anschlägen geschrieben und die Finanzmittel bereitgestellt haben. Wir vermeinen die Motive dieser Verbrecher zu kennen, wir haben aber keine Antwort auf die Frage, warum ein angeblich gegen eine bestimmte Kultur - die westliche - gerichteter Anschlag Menschen aus mehr als 60 verschiedenen Herkunftsländern tötete, unter ihnen fast 1 000 Angehörige des muslimischen Glaubens.

 

Die erste Reaktion auf das Unfassbare mündete in die Bezeichnung "Krieg". Es fällt schwer, angesichts der Verwüstungen, die viele Angehörige vor allem der Weltkriegsgeneration an die Bilder bombardierter Städte erinnert haben, dies nicht so zu sehen. Aber war dieser brutale Akt tatsächlicher Gewalt, der zielgenau äußerst signifikante Orte einer Nation, einer Kultur, einer Wirtschaftsordnung traf, im eigentlichen Sinn eine Kriegshandlung? - Krieg im bisherigen Sinne implizierte jedenfalls den theoretisch möglichen und oft vergeblich gegangenen Ausweg aus der Gewalt in die politische Verhandlung. Diese theoretische Möglichkeit, Gewalt gegen Menschen zu Gunsten des Gesprächs auszusetzen, gibt es im Fall der Angriffe vom 11. September 2001 offensichtlich nicht.

 

Wir stehen auch fassungslos vor der Tatsache, dass eine Nation, die ungeheure Mittel in die innere und äußere Sicherheit ihres Territoriums und ihrer Bewohner investiert, dennoch so verwundbar ist. Viele Fragen der inneren und äußeren Sicherheit werden seit dem 11. September 2001 völlig neu zu diskutieren sein.

 

Wir wissen weltweit auch noch keine Antwort auf die Frage, wie im Transportwesen, in der Luftfahrt, schlichtweg überall dort, wo eine große Anzahl von Menschen zusammenkommt, in Zukunft Vorkehrungen getroffen werden können. Wir wollen Sicherheit vor Verbrechern, denen die Achtung vor jedwedem Leben, also auch dem eigenen, zu fehlen scheint. Diese Sicherheit wird es nicht geben können!

 

Wir wissen heute weltweit noch keine Antwort auf die Fragen, welche Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung, auf unsere demokratische, in der Tat kulturelle Entwicklung diese Schreckenstat haben wird.

 

So schwer es uns allen fällt, weil wir alle nur fassungslos und schockiert von diesen entsetzlichen Verbrechen des vergangenen Dienstag sind: Unser Bemühen muss es sein, dass die politische - und das heißt auch: die militärische - Reaktion auf diese Verbrechen von Verantwortung und Vernunft angeleitet wird. Unsere Aufgabe ist es, unsere demokratische Gesellschaftsform, unser Miteinander in der Gesellschaft nicht vom Terror zerstören zu lassen. So richte ich von dieser Stelle auch mein Wort an unsere Mitbürger moslemischen Glaubens: Es gibt keinen Krieg der Zivilisationen, sondern einen Kampf der humanen Zivilisation gegen den inhumanen Terrorismus!

 

Unsere Aufgabe muss es auch und insbesondere auf europäischer Ebene sein, dafür einzutreten, dass eine Strategie der Terrorismusbekämpfung gemeinsam umgesetzt wird, die keine neuen Voraussetzungen für neue Gewalttaten, aber auch keine Vorwände für neue Gewalttaten liefert. Es mag diese Forderung, wenn sie von einem kleinen, in keinem militärischen Bündnis befindlichen Land, formuliert wird, nur allzu billig erscheinen. Es ist aber in einer demokratischen, die Freiheit achtenden und verantwortungsvollen menschlichen Gemeinschaft kein anderer Weg zumutbar. Solidarisch mit unseren amerikanischen Freunden sein heißt, eine Phalanx zu bilden gegen Verbrecher, die offensichtlich bar jeglicher menschlicher Hemmung menschliche Leben zerstören. Diese Solidarität ist aber kein Kreuzzug gegen das Böse.

 

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