Gemeinderat,
1. Sitzung vom 18.11.2005, Wörtliches Protokoll - Seite 35 von 56
Meinung bin, es lohnt nicht zu warten und auf bessere Tage oder auf eine bessere Bundesregierung zu hoffen. Vieles davon können und müssen wir selbst angehen und selbst in Wien umsetzen.
Ich beginne mit dem
wesentlichen und vielleicht größten Problem der Stadt, nämlich der steigenden
Armut. Wir wissen, dass inzwischen 260 000 Menschen in Wien unter der
Armutsgrenze leben. Das ist in einer Stadt mit einer Bevölkerung von
1,6 Millionen nicht wenig. Das ist nicht wenig. Es ist bald jeder Sechste
oder jede Sechste, muss man sagen, wenn man sich das anschaut und zusammenrechnet,
denn darunter finden sich sehr viele Frauen und auch sehr viele Kinder. Wir
sind stolz darauf, dass Wien eine Stadt war, mit Betonung auf "war",
in der Weltoffenheit eine Selbstverständlichkeit war und Gott sei Dank nach wie
vor bis auf weiteres ist, in der auch der soziale Frieden da ist, in der das
soziale Gefüge funktioniert und nicht komplett zerfallen ist. Aber wenn man
sich die Entwicklung der letzten Jahre anschaut, muss man sagen, die Anzahl der
Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, steigt. Sie steigt nicht ein
bisschen, sie steigt rasant. Sie hat sich innerhalb von zwei Jahren verdoppelt.
Verdoppelt, das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Armutsbericht,
Frau Stadträtin, nicht von der Vassilakou erfunden, es ist so.
Die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen hat sich
ebenfalls binnen weniger Jahre verdoppelt. Wir sind bereits bei
77 000 Menschen, die auf die Sozialhilfe angewiesen sind und die
Anzahl dieser Menschen steigt. Das bedeutet etwas. Es bedeutet nicht nur etwas
für unser Budget. Ich weiß von den budgetären Spielräumen, die knapp sind. Ich
weiß auch von den Engpässen. Also es bedeutet nicht nur etwas für unser Budget,
wo man sagen muss, dann muss man schauen, woher man das Geld nehmen soll. Ich
verstehe diese Problematik. Es bedeutet allem voran etwas für das Leben dieser
Menschen und es bedeutet etwas für diese Stadt. Für mich ist es ein
unerträglicher Gedanke bei einer der reichsten Städte der Welt, denn Wien ist
meines Wissens nach die siebentreichste Stadt der Welt, hat Kompetenzen und
natürlich auch ein Budget, von dem andere Städte bei dieser Größe nur träumen
könnten. Also ich kann es, wie gesagt, nicht hinnehmen, dass in einer der
reichsten Städte der Welt, inzwischen Tausende von Kindern in Armut, und zwar in
bitterer Armut, aufwachsen, denn Sie wissen, dass man bei 630 EUR
Höchstleistung, die man aus der Sozialhilfe beziehen kann, sich davon de facto
nichts kaufen kann. Man kann den Kindern nicht neue Schuhe kaufen. Man kann
Kindern im Winter, wenn es kalt ist, nicht einen neuen Mantel kaufen, weil
Kinder wachsen und man das meistens noch dazu jedes Jahr braucht. Man kommt
damit nicht zu Rande.
Es ist kein erträglicher Zustand, dass immer mehr
Frauen davon leben und darauf angewiesen sind, denn wir wissen auch, dass unter
den Sozialhilfeempfängerinnen in der Stadt mitunter als sehr starke Gruppe
alleinerziehende Frauen vertreten sind. Man kann nicht einfach hinnehmen, dass
immer Menschen nur mehr Teilzeitjobs in dieser Stadt finden, sodass sie
arbeitstätig sind, aber so wenig verdienen, dass sie davon nicht leben können,
sodass sie trotz Arbeitstätigkeit sogar Ausgleichsleistungen aus der
Sozialhilfe beziehen müssen. Das sei einmal insbesondere den Kollegen von der
ÖVP ins Stammbuch geschrieben.
Es stimmt nicht, wenn man von der Grundsicherung
spricht, dass es eine Leistung wäre, die einem Arbeitsloseneinkommen
gleichkäme. Das größte Problem, mit dem wir hier konfrontiert sind, ist, dass
es Tausende von Menschen betrifft. 35 000 Menschen beziehen derzeit
Leistungen aus der Sozialhilfe, obwohl sie berufstätig sind. Würde das Argument
tatsächlich greifen und funktionieren, dass Menschen Sozialhilfe erhalten,
dadurch gar nicht vom Arbeitsmarkt verdrängt werden und nicht mehr arbeiten
gehen, dann wäre das nicht jetzt schon so, dass Menschen so wenig Geld haben,
so wenig Geld verdienen und dennoch arbeiten, weil es ihnen wichtig ist, einen
Arbeitsplatz zu haben. Man kann auch noch das Motiv, dass die Anzahl der
kleinen Selbstständigen in dieser Stadt steigt, einfach so zur Kenntnis nehmen.
Inzwischen ist das Phänomen der Einpersonenfirma mehr oder weniger bei ungefähr
50 000 Menschen angekommen. (Bgm
Dr Michael Häupl: Was tun wir heute?) Was tun wir? Ich sage, Grundsicherung
nicht an den Bund delegieren, Grundsicherung hier und jetzt selbst in Wien
umsetzen! (Beifall bei den GRÜNEN.)
Wir hätten die Möglichkeiten. Selbstverständlich
kostet es Geld. Es kostet viel Geld, Herr Bürgermeister. Es kostet
89 Millionen EUR, das haben wir ausgerechnet, für Menschen in dieser Stadt
zu garantieren, dass niemand mit weniger als 800 EUR auskommen muss. (Bgm Dr Michael Häupl: Aber das hat mit der
Scheinselbstständigkeit nichts zu tun!) Das hat sehr wohl etwas mit der
Scheinselbstständigkeit zu tun! Danke für diese gute Anmerkung. Da ist selten
Gelegenheit, sich zu unterhalten. (Bgm Dr
Michael Häupl: Es ist möglich! Wir haben Zeit genug! Es ist ja niemand da!)
Es ist wunderbar, genau das finde ich auch. Also bringen wir es auf den Punkt,
mit der Scheinselbstständigkeit hat es etwas zu tun, weil genau diese, wie
gesagt, 44 000 Menschen, die davon betroffen sind, überhaupt kein
soziales Absicherungsnetz haben, auf das sie zurückgreifen können, sehr wenig
verdienen und überhaupt nicht krank werden dürfen, denn im Falle von beispielsweise
längerer Krankheit stehen sie vor dem Aus und dürfen nicht einmal Sozialhilfe
beziehen, Herr Bürgermeister, denn um Sozialhilfe zu beziehen, müssten sie ihr
Unternehmen auflösen, was ganz sicher nicht in unserem Sinne ist, weil sie dann
noch weiter aus dem Arbeitsmarkt verdrängt sind.
Das heißt, hier müssen wir handeln
und Veränderungen herbeiführen. Wir müssen auch überlegen, ob wir diese
Belastung für das Wiener Stadtbudget in Kauf nehmen möchten und vielleicht
dafür etwas anderes von den vielen Dingen, die Sie heute angeführt haben, nicht
umsetzen. Denn man muss selbstverständlich Prioritäten setzen und meines
Erachtens nach ist die Priorität Armutsbekämpfung wahrscheinlich die größte
Herausforderung, mit der wir in den nächsten Jahren in Wien fertig
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