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Gemeinderat, 2. Sitzung vom 10.12.2015, Wörtliches Protokoll  -  Seite 108 von 125

 

Die Zahlen, die wir aus diversen Erhebungen, auch aus diversen PISA-Vergleichen, kennen, sind alarmierend. Wir wissen, dass ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler in Wien die Pflichtschule verlassen und funktionale Analphabeten sind, also nicht sinnerfassend lesen können. Ein Fünftel! Das ist der direkte Weg ins AMS, vielleicht noch überbrückt mit Maßnahmen, die ich durchaus begrüße, aber die letztlich dann auch den Weg zur Arbeitslosigkeit verlängern.

 

Ein Drittel, also noch mehr, hat nach der 4. Klasse Volksschule nicht die nötigen Kernkompetenzen oder die ausreichenden Bildungsstandards im Bereich Mathematik. Ein Drittel! Sie müssen sich wirklich vor Augen halten, wie viele Schülerinnen und Schüler, wie viele Kinder und Jugendliche davon in Wien betroffen sind.

 

Was mir schon auch im Kontext dieses Budgets, das wir diskutieren, wichtig zu betonen ist, sind natürlich die Bildungsdefizite oder auch gerade die Defizite und Verfehlungen in der Bildungspolitik von heute, die Sozialausgaben der Zukunft. Auch deswegen ist uns Bildung so ein Anliegen, weil wir wissen, dass natürlich gerade auch im Bereich beispielsweise der Bedarfsorientierten Mindestsicherung die Kosten exorbitant steigen. (Beifall bei den NEOS.)

 

Wir haben in Wien die Situation, dass es Kinder gibt, die aus, vielleicht kann man noch sagen, problematischen sozialen Milieus kommen, wo es nicht sehr viel Förderung von zu Hause gibt. Diese Kinder erleben aber eine doppelte Benachteiligung, und zwar in den Wiener Schulen, weil ein Drittel der Schülerinnen und Schüler in Wien in eine Schule mit einer hohen sozialen Benachteiligung geht. Also, wenn man von Brennpunktschulen in Wien spricht, kann man bei einem Drittel der Schülerinnen und Schüler schon durchaus von einem ordentlichen Flächenbrand sprechen. In diesen Schulen mit hoher sozialer Benachteiligung passiert nämlich das Folgende, dass in einem weitaus geringeren Ausmaß Bildungsstandards erreicht werden.

 

Das ist jetzt nicht weiter ungewöhnlich. Natürlich ist es auch in anderen Städten der Welt der Fall, aber, wie mein Vorredner Christoph Wiederkehr auch schon darauf hingewiesen hat, man kann Maßnahmen setzen, etwa durch einen Chancenbonus. Ich möchte noch einmal wiederholen, was er gesagt hat, unser Modell, ein Chancenbonus. Ich weiß, da sind wir auch nicht sehr weit entfernt vom Sozialindex, der oft diskutiert wird. Ich finde nur ganz persönlich das Wort Chancenbonus etwas schöner als das Wort Sozialindex. Aber wir würden uns daran orientieren, weil ich denke, das ist wirklich das signifikanteste Merkmal, der Bildungshintergrund der Eltern. Das wird auch in anderen Ländern, beispielsweise in den Niederlanden, so gehandhabt, etwa Pflichtschulabschluss oder darunter bedeutet für diese Schülerin oder für diesen Schüler, wir würden uns eine Subjektfinanzierung stärker vorstellen können. Für diese Schülerin, für diesen Schüler gibt es dann mehr Geld. Das ist der Sinn eines Chancenbonus. Wir würden hier sehr gerne rasch auch ins Tun kommen, um das in Wien zu verwirklichen. (Beifall bei den NEOS.)

 

Ich sehe im Regierungsprogramm von Rot-Grün, in dem das Kapitel Bildung durchaus einen großen Teil einnimmt, dass Sie das Problem sehen, erkennen und auch ehrlich etwas tun wollen, um die Situation zu verbessern. Und ich sehe auch - ich bin ja nicht blind! -, dass Wien allein vieles im Zusammenhang mit einer Bildungsreform nicht lösen können wird. Daher stehe wir jetzt natürlich vor dem Problem - und jetzt schaue ich vor allem in Richtung ÖVP -, dass dank des Gezerres, das wir wieder erlebt haben, das vor allem ein machtpolitisches Gezerre ist, letztlich der große Bildungsreformwurf, der angekündigt wurde, eigentlich schon wieder abgesagt wurde, noch bevor überhaupt damit begonnen wurde.

 

Werte ÖVP! Werte FPÖ! Die Trennung der Kinder mit zehn Jahren ist einfach nicht klug! Auch wir NEOS glauben daran, dass das zu früh ist und dass die Wegentscheidung später erfolgen soll. (Beifall bei NEOS, SPÖ und GRÜNEN.)

 

Damit rede ich aber nicht einer gleich machenden Gesamtschule das Wort. (GR Mag. Dietbert Kowarik: Das ist schon passiert!) Nein, das tue ich nicht! Schauen Sie: Das ist der Unterschied zwischen differenzierten Debatten und nichtdifferenzierten Debatten. Ich werde Ihnen das nächste Mal unser Buch „Die mündige Schule“ mitbringen. - Wir gehen von sehr differenzierten und autonomen Schulen aus, die selbstverständlich in die Lage versetzt werden, etwa durch größere Globalbudgets viel umfassendere, nicht nur personelle, sondern auch budgetäre Autonomieschwerpunkte zu setzen.

 

Damit soll auch das erreicht werden, was unser Anspruch an Bildungspolitik ist, dass nämlich auf die individuellen Befähigungen, Begabungen und Neigungen der Kinder optimal eingegangen und genau dort Förderung angeboten werden kann, wo es notwendig ist.

 

Nun noch etwas: Ich war gerade jetzt eine Woche in Frankreich und habe mir dort sehr genau das französische Bildungssystem angeschaut, das übrigens in vielerlei Hinsicht nicht dem entspricht, was sozusagen Trend in Europa ist. Dort ist eigentlich keine Rede von großer Schulautonomie, das möchte ich sagen. Aber es sind dort zwei Aspekte Kernbestandteil des Bildungssystems. Einer davon ist, dass es ein egalitäres Bildungssystem, also eine Gesamtschule ist, wo mit 15 Jahren der weitere Bildungsweg entschieden wird.

 

Deshalb sage ich Ihnen: Habe Sie Mut! Haben Sie keine Angst! Gleichzeitig ist das nämlich ein Bildungssystem, das in ungeheurem Ausmaß und viel stärker, als wir es hier in Österreich erleben - und vielleicht sogar viel deutlicher in eine Richtung geht, die Ihnen hier lieb wäre -, Eliten hervorbringt, weil es um Leistung geht. Das ist in einem System in Frankreich mit einem deutlich egalitären Ansatz durchaus möglich.

 

Ich halte das, was dort geschieht, nicht immer für gut, das muss ich schon auch sagen. Aber es zeigt mir in der Praxis, dass Ihre Befürchtungen einfach nicht zutreffend sind! Sie können das vergessen! Hören Sie auf mit Ihrer ideologischen Blockade! Es ist möglich, ein Bildungssystem zu schaffen, das nicht alle gleich macht und das

 

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