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Gemeinderat, 14. Sitzung vom 21.10.2016, Wörtliches Protokoll  -  Seite 40 von 71

 

zutrauen können! Kanada ist uns ähnlich beim Schutz der Landwirtschaft, beim Klimaschutz, beim Konsumentenschutz. Es besteht ein großer Unterschied zwischen den USA und Kanada.

 

Frau Abgeordnete Vana! Ich verstehe Sie nicht, wenn Sie sagen, dass dann schlechtere Produkte und Pestizide ins Land kommen! Sie sagen, dass das die Erfahrungen sind, die wir mit CETA gemacht haben. - Diese Erfahrungen haben wir noch nicht! Und in den Regelungen ist überhaupt kein Anhaltspunkt zu finden, dass es so sein wird! (GR Mag. Wolfgang Jung: Wissen Sie, wie viele US-Firmen es in Kanada gibt?)

 

Noch etwas: Kanada ist von der Anzahl der Bevölkerung her kleiner als Polen. Wir haben hier also ein Abkommen mit einem Land, das weniger Bevölkerung hat als Polen, versus der gesamten Europäischen Union mit 500 Millionen Leuten! Warum haben wir Angst vor einem solchen Abkommen? - Ich glaube, ich kann Ihnen den Grund sagen, warum wir so viel Angst haben: Weil wir uns selber nichts mehr zutrauen, weil wir nicht an unseren eigenen Markt und an unsere eigenen Leute glauben, weil wir glauben, dass wir das nicht schaffen würden und dass die 38 Millionen Kanadier über uns drüberfahren und all unsere Unternehmen untergehen müssen.

 

Ich glaube, wir haben in Europa sowieso das Problem, dass wir zur Großmutter geworden sind, um eine Debatte zwischen Angela Merkel und Papst Franziskus zu zitieren. Ich meine aber, wir können uns zutrauen, dass wir uns bewegen können, dass wir besser werden können, dass wir auch mit Kanada fruchtbar zusammenarbeiten können. Deswegen möchte ich heute den Antrag stellen, dass der Wiener Gemeinderat sich für eine Ratifizierung von CETA ausspricht. (EP-Abg. Ing. Dr. Paul Rübig: Bravo! - Beifall bei der ÖVP.)

 

Ich bin sehr gespannt, wie sich die Sozialdemokratische Fraktion hier verhalten wird!

 

Abschließend möchte ich noch zum Thema Schiedsgerichte etwas sagen. - Wir haben das im Europaausschuss diskutiert. Da hat es geheißen: Es ist eine Katastrophe mit den Schiedsgerichten! Alles wird untergehen. - Für mich als Juristin sind Schiedsgerichte eigentlich eine positive Neuerung und in vielen verschiedenen Bereichen etwas Gutes.

 

Ich kann Ihnen sagen, warum für ein Handelsabkommen ein Schiedsgericht etwas Gutes ist: Weil dann nämlich ein österreichisches Unternehmen nicht in Kanada prozessieren muss und weil nationale Gerichte nur nationale Gesetze anwenden können. Die vielen Investitionsschutzabkommen, die Österreich unterzeichnet hat - es sind über 60 -, können vor nationalen Gerichten gar nicht angewandt werden, weil das nicht in den Zuständigkeitsbereich der Gerichte fällt. Außerdem sind die Arbitrators, die Schiedsrichter, in den jeweiligen Fragen spezialisiert, und auch das ist eine ganz große Hilfe, weil wir aus Statistiken wissen, dass dort, wo Schiedsgerichte zum Einsatz kommen, erstens die Wahrscheinlichkeit viel höher ist, dass es zu einer außergerichtlichen Einigung - zu einem „friendly settlement“, wie man auf Englisch sagt - kommt, und dass zweitens die Kosten des Verfahrens viel niedriger sind. - Das allein spricht dafür, dass es die Möglichkeit für den Einsatz von Schiedsgerichten auf einem modernen Kontinent geben muss und geben soll.

 

Ich habe jetzt nicht mehr sehr viel Zeit, möchte aber noch etwas zum Thema Lebensrealitäten sagen. Der neueste Eurobarometer sagt uns, worüber sich die Österreicherinnen und Österreicher besonders Sorgen machen. In den Bereichen Arbeitslosigkeit, Migration, Terrorismus ist die Statistik in allen europäischen Ländern sehr ähnlich, aber in einigen Fragen unterscheiden sich die Österreicherinnen und Österreicher von den anderen EU-Ländern: Das ist die Sorge um die öffentlichen Ausgaben der EU-Staaten, um die Verbrechensrate und um die Arbeitsbedingungen. Ich glaube, wir müssen diese Sorgen viel ernster nehmen.

 

Eine Lebensrealität, die wir alle gut kennen - und ich habe dazu gerade ein Briefing-Paper von den Research Teams aus dem Europäischen Parlament bekommen -, ist die Frage, wie es den Kindern, den Jugendlichen und den Familien geht, die armutsgefährdet sind. Wir haben heute schon eine Zahl dazu gehört: Einer von vier Europäern ist armutsgefährdet, aber in den Familien sieht das dramatischer aus. Bei Mehrkindfamilien, sprich, ab drei Kindern, sind zwei von drei Familien armutsgefährdet, bei Alleinerziehern ist es einer von zwei. Insgesamt spricht man von 27,4 Millionen Kindern und Jugendlichen, die akut armutsgefährdet sind. Als Grund dafür wird die Wirtschaftskrise angegeben. Sie hat zu familienunfreundlichen Maßnahmen geführt, wodurch es verstärkt zu Armutsvererbung gekommen ist.

 

Ich glaube, dass der Zugang der Europäischen Union dazu sehr wichtig ist. Einerseits sind für die Familienpolitik die Mitgliedstaaten verantwortlich, aber als Querschnittsmaterie unterstützt die Europäische Union familienfreundliche Maßnahmen. Das ist wichtig und gut so, und ich glaube, dass Wien in diesem Prozess noch viel mehr tun sollte und tun könnte.

 

Vielleicht noch ein Wort zu einem anderen Thema, bei dem ich meine, dass die Lebensrealitäten nicht angesprochen werden. Ich sehe jetzt gerade, Frau Mlinar ist nicht mehr da: Frau Mlinar hat nämlich am 28. September im Europäischen Parlament eine Veranstaltung mit dem Titel „Sauberes Gewissen - Clean Conscience“ organisiert und hat in dieser Veranstaltung gefordert, dass die Gewissensfreiheit zu regulieren wäre, mit dem Satz, dass die Konsequenzen der unregulierten und uneingeschränkten Gewissensfreiheit dazu führt, dass viel zu viel Gewissensfreiheit in Anspruch genommen wird. - Das ist etwas, bei dem bei mir, der ich mich mein ganzes Leben lang für Menschrechte engagiert habe, alle Alarmglocken läuten. Zu viel Gewissensfreiheit, zu viel Menschenrechte, zu viel Freiheit - wie kann denn das sein? Frau Mlinar meint, dass es zum Beispiel für medizinisches Personal nicht möglich sein sollte, zu sagen, ich will bei einer Euthanasie nicht mitwirken, oder für einen Studenten, der Humangenetik studiert, ich will aber embryonale Stammzellen nicht beforschen.

 

Ich denke, dass das ein Rückschritt ist, denn ein säkulares Europa hat Platz für alle Menschen, auch für die, die sagen, ich habe einen Gewissensvorbehalt. Wenn

 

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