Landtag,
14. Sitzung vom 24.04.2003, Wörtliches Protokoll - Seite 26 von 83
Entwicklungen und die zunehmende ökonomische Vertiefung der
Europäischen Union zu einem Unbehagen in der Bevölkerung bezüglich der
mangelnden politischen Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit der Europäischen Union
nach innen und nach außen auf der weltpolitischen Bühne geführt. Schon heute
wollen rund 63 Prozent der EU-Bevölkerung - so eine vom Eurobarometer im
Frühjahr 2002 durchgeführte Umfrage - eine europäische Verfassung. Auch die
Mehrheit der nationalen Regierungen kann sich inzwischen mit dieser Vorstellung
anfreunden. Dies ist nicht zuletzt auch Ergebnis der Dynamik, die im Konvent
entstanden ist. Unter Politikern aller Parteien in nahezu allen Mitgliedstaaten
der Union gehört die Forderung nach einer europäischen Verfassung heute zum
guten europapolitischen Ton.
Der mit der Erklärung von Laeken eingerichtete
"Europäische Verfassungskonvent" hat mit seiner Eröffnungssitzung am
28. Februar 2002 in Brüssel seine Tätigkeit aufgenommen. Die Ausarbeitung
einer europäischen Verfassung steht damit politisch eindeutig auf der
Tagesordnung. Wir kommen damit allerdings zu einer weiteren zentralen Frage:
Braucht die Europäische Union überhaupt eine Verfassung?
Nach 50 Jahren erfolgreicher europäischer
Einigung, etlichen Gründungs-, Änderungs-, Ergänzungs- und Beitrittsverträgen
sowie zahlreichen technisch-administrativen Regelungen, angesichts der
Tatsache, dass sich immer mehr Probleme auf einzelstaatlicher Ebene nicht mehr
wirksam lösen lassen, der Tatsache, dass die nationalstaatliche Souveränität
durch die ökonomische Globalisierung zunehmend in Frage gestellt ist, und
schlicht und einfach angesichts der Tatsache, dass das vorhandene Vertragswerk
wohl nur mehr für Spezialisten durchschaubar und überblickbar ist, ist es
höchst an der Zeit, dieses historisch gewachsene Vertragswerk einer - wie ich
es schon nannte - Generalrevision zu unterziehen.
Ich möchte an dieser Stelle hinzufügen, meine Damen
und Herren: Eine derartige Generalrevision würde auch unserer Verfassung gut
tun. Die aktuelle Diskussion weist ja in diese Richtung, wenn ich auch nicht ganz
verstehen kann, warum der österreichische Konvent beinahe so viele Mitglieder
haben soll wie der EU-Konvent. Man ist beinahe geneigt, in Umkehrung eines
alten Sprichworts zu sagen: "Die Union - die kleine Welt, in der
Österreich seine Probe hält."
Meine Damen und Herren! Bei allen
Verfassungsdiskussionen ist es gut, sich in Erinnerung zu rufen, was denn
eigentlich Sinn und Zweck einer Verfassung ist:
Eine Verfassung konstituiert und begrenzt
demokratisch legitimierte Hoheitsgewalt; durch sie schaffen sich Menschen auf
einem gegebenen Gebiet Institutionen für die Erfüllung bestimmter gemeinsamer
Zwecke, durch sie werden Verfahren der Beschlussfassung, Kompetenzen zur
individuellen Entscheidung, die individuellen Rechte sowie der Status und die
Beteiligung der Betroffenen festgelegt, die sich so selbst der konstituierten
Hoheitsgewalt unterordnen. Kurz gesagt, eine Verfassung legt fest: wer tut was
auf welcher rechtlichen Grundlage und wer kontrolliert wen. Es spricht nichts
dagegen, dass dies auf einer den Staaten übergeordneten Ebene supranationaler
Erfüllung ehedem staatlicher Aufgaben geschieht.
Hiezu kommt - und dies ist gerade für uns Europäer
und Europäerinnen von großer Bedeutung - die identitätsstiftende Funktion einer
Verfassung. Einer europäischen Verfassung ohne Identifikation der Bürger und
Bürgerinnen dieses Europa mit ihrer Verfassung wird kein Erfolg beschieden
sein. Diese europäische Verfassung – und dies zeigen ja die Diskussionen im
Konvent – muss daher auf den grundlegenden Werten Europas aufbauen.
Was sind nun diese grundlegenden gemeinsamen Werte,
auf denen die Demokratien in Europa aufbauen? - Es ist dies das Wissen um den
Wert eines funktionierenden Rechtssystems und damit die Regelung der
Beziehungen zwischen den Menschen auf einer rationalen, geordneten Ebene. Es
geht um das Wissen um den gleichen Wert und die gleiche Würde jedes einzelnen
Menschen und schließlich das Wissen um die Bedeutung von Vernunft,
Wissenschaft, Freiheit und Gerechtigkeit für ein demokratisches Gemeinwesen.
Alles, was auf diesen gemeinsamen Werten aufbaut, steht im freien Willen der
Europäer und Europäerinnen und ihrer gewählten Volksvertreter und
Volksvertreterinnen.
Eine europäische Verfassungsurkunde, mit der die
Bürger und Bürgerinnen Europas sich identifizieren können, ist allerdings
bislang nicht vorhanden. Europa als Werte- und Identitätsgemeinschaft tritt
seinen Bürgern und Bürgerinnen und der Welt bislang weder im symbolischen Akt
einer Verfassungsgebung noch durch den einheitsstiftenden Inhalt einer
europäischen Verfassungsurkunde entgegen.
Meine Damen und Herren! Aber genau darum geht es in
der aktuellen Debatte über die Zukunft der Union, geht es bei den Beratungen im
Konvent.
Und wenn ich eingangs Giuliano Amato zitiert habe:
Die künftige europäische Verfassung darf jedenfalls nicht als schlechte
Variante nationalstaatlicher Konzepte gesehen werden. Das Erstellen von
"Blaupausen" nationaler Verfassungen würde den Konvent zu nicht mehr
als einer politisch unproduktiven Bastelstunde verkommen lassen. Es sind neue
Formen des "europäischen Regierens" unter Einbeziehung aller
politisch verantwortlichen Ebenen zu erarbeiten. Die demokratische
Verantwortlichkeit angesichts gegenseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit ist
auf allen Ebenen demokratischer Legitimation zu verstärken und auszubauen.
Meine Damen und Herren! Für die Bürger und Bürgerinnen
besonders wichtig: Die europäische Verfassung muss die Hoheitsgewalt der Union
gegenüber dem einzelnen Unionsbürger, der einzelnen Unionsbürgerin sichtbar
begrenzen. Die Aufnahme der Charta der Grundrechte in den Verfassungsvertrag
ist daher unabdingbar, insbesondere auch deshalb, weil diese Charta nicht nur
die klassischen Freiheits- und Gleichheitsrechte enthält, sondern auch im
Bereich der Freiheitsrechte grundrechtlichen Schutz gegenüber neuen, modernen
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