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Landtag, 14. Sitzung vom 24.04.2003, Wörtliches Protokoll  -  Seite 27 von 83

 

Gefährdungslagen individueller Freiheit, etwa im Bereich des Datenschutzes oder der Gentechnologie garantiert.

 

Darüber hinaus führt die Charta der Grundrechte die klassischen Freiheits- und Gleichheitsrechte erstmals auf überstaatlicher Ebene unter dem Gesichtspunkt der Unteilbarkeit der Grundrechte mit der Garantie wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte zusammen. Gerade die Berücksichtigung sozialer Grundrechte ist wesentlicher Ausdruck des europäischen Gesellschaftsmodells und stellt eine deutliche Abgrenzung vom Grundrechtsverständnis etwa der Vereinigten Staaten dar - und damit auch vom US-amerikanischen Gesellschaftsmodell.

 

Zu überlegen ist auch die Durchführung einer Volksabstimmung über die europäische Verfassung - trotz aller Schwierigkeiten, die zweifelsfrei damit verbunden sind. Eine Verfassung, die in einer Volksabstimmung von den Bürgern und Bürgerinnen der Union verabschiedet wird, hätte jedenfalls einen unübersehbaren Vorteil gegenüber einem Zustandekommen auf rein mitgliedstaatlicher Ebene. Allein der Prozess der Vorbereitung und Durchführung einer solchen Volksabstimmung in allen Mitgliedstaaten der Union würde zwingend europaweit eine politische Diskussion und Auseinandersetzung über die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen und Folgen der europäischen Integration in Gang setzen. Ein derartiger Prozess würde einen Diskurs der europäischen Bürger und Bürgerinnen über das europäische Gemeinwohl auf der Basis gemeinsamer Zielvorstellungen und Werte ins Leben rufen. Das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit und eines europäischen politischen Prozesses und damit die außerrechtlichen Voraussetzungen für die Herausbildung einer europäischen Identität würden zweifelsfrei deutlich gestärkt.

 

Die Diskussion im Konvent und der vorgeschlagene erste Artikel über die Gründung der Union, in dem es heißt: "Entsprechend dem Wunsch der Völker und Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, ...", weisen deutlich in diese Richtung.

 

Die Forderung nach Durchführung eines Referendums über die künftige europäische Verfassung erhob im Übrigen auch der Jugendkonvent im Juli 2002.

 

Meine Damen und Herren! Die künftige europäische Verfassung kann das starke Fundament der supranationalen Zusammenarbeit der Völker und Staaten Europas bilden, die Grundwerte und gemeinsamen Ziele Europas nach innen und außen anschaulich werden lassen und die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, aber auch der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit bei der Ausübung der Gemeinschaftskompetenzen endlich da verankern, wo es dem erreichten fortgeschrittenen Integrationsstand angemessen ist: in einer zusammenhängenden, formal als Verfassung erkennbaren und in ihrer Gesamtheit als Verfassung konsentierten europäischen Verfassungsurkunde, die die Legitimation, die Organisation und die Begrenzung der europäischen supranationalen Zusammenarbeit erkennbar macht.

 

Der EU-Konvent und die Diskussion um die Zukunft der Union bilden damit nicht mehr als das Nachholen des schon lange erforderlichen und rechtsstaatlich gebotenen Konstitutionalisierungsaktes der europäischen supranationalen Hoheitsgewalt. Wenn die Europäische Union zukunftsfähig sein soll, muss dieses Vorhaben erfolgreich zum Abschluss gebracht werden.

 

Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn wir von der Identität Europas, der Identität der Europäischen Union und ihrer Zukunftsfähigkeit sprechen, müssen wir über die grundlegende Substanz dieses unseres europäischen Einigungswerks sprechen, das Herzstück, das diese Europäische Union einzigartig macht. Dieses Herzstück ist der dauerhafte und nachhaltige Friede auf diesem Kontinent, basierend auf unseren - bereits von mir erwähnten - Werten der Aufklärung, den Werten der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, der Freiheit, der sozialen Sicherheit und der Achtung der Würde der Menschen. Dieses "Friedensprojekt" basiert auf dem freien Willen der Staaten, ihrer verantwortlichen Politiker und ihrer Bürger und Bürgerinnen, sich in einer supranationalen Organisation zusammenzuschließen und die sich stellenden Herausforderungen und Schwierigkeiten gemeinsam zu bewältigen.

 

Ein wesentlicher Aspekt und, wie mir scheint, aufgrund der globalen Herausforderungen viel zu wenig beachteter Aspekt des Friedensprozesses Europas ist der soziale Friede im Inneren, das Streben nach sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit, der Ermöglichung gleicher Lebensbedingungen für alle Bürger und Bürgerinnen - kurz das, was wir als europäisches Gesellschaftsmodell bezeichnen. Dies ist auch - und davon bin ich fest überzeugt - der viel zitierte Mehrwert der Europäischen Union: Frieden nach außen und soziale Sicherheit und Wohlstand im Inneren.

 

Es ist eine schon länger geführte Diskussion und auch politische Praxis, Modelle mit starker Orientierung an den Prinzipien "Markt" und "privat" zu propagieren und vorzuziehen. Auch vor den Sozialsystemen, den öffentlichen Leistungen, den Leistungen der Daseinsvorsorge und der öffentlichen Verwaltung macht diese Debatte nicht Halt. Es gibt vielfache Bestrebungen, Sozialsysteme insgesamt oder in Teilbereichen zu privatisieren. Soziale Errungenschaften werden verächtlich gemacht, um sie dann abschaffen zu können. Es führt so weit, dass, wer in Europa soziale Verpflichtungen und internationales Recht außer Frage stellen möchte, Gefahr läuft, als rückschrittlich und als "altes Europa" gegeißelt zu werden. Dieser Entwicklung muss auf vielen Ebenen entgegengetreten werden. Noch hält der soziale Friede, und vor gar nicht allzu langer Zeit gab es in Europa einen gesellschaftspolitischen Grundkonsens, dass zu den Kernaufgaben des Staates auch soziale Pflichten und gemeinwirtschaftliche Verantwortungen gehören. Die Schaffung nachhaltiger stabiler und gerechter sozialer Verhältnisse war vielen politischer Auftrag.

 

Schlüsselelement des europäischen Gesellschaftsmodells ist der soziale Dialog. Noch im Jahr 2000 - ein für Österreich wohl nicht unbedeutsames politisches Datum - bestätigte eine Studie der International Labour Organization, dass vor allem die Fähigkeit Österreichs

 

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