Landtag,
28. Sitzung vom 06.04.2005, Wörtliches Protokoll - Seite 5 von 10
Die Gedanken kreisen um die für Wien und für Österreich so bedeutsamen Daten April 1945, Mai 1955, sie kreisen aber auch um die Perspektiven, die sich aus der europäischen Integration ergeben, an der die Republik und ihre Gliederungen seit 1995 voll verantwortlich teilnehmen.
Jubiläen, meine Damen und Herren, sind Schnittpunkte
zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das wird in der historisch
logischen Verknüpfung im heurigen Gedanken- und Gedenkjahr wohl besonders
deutlich. Eine der Fragen, die mich immer wieder beschäftigen, ist die, ob es
uns Älteren mit allen Zeitzeugen, mit allen technischen Hilfsmitteln und allen
Installationen und Bildern überhaupt gelingen kann, 60 Geburtsjahrgängen, die
glücklicherweise in Frieden, Freiheit und Demokratie hineingeboren wurden, auch
nur eine Ahnung vom Jahre 1945 und den davor liegenden Jahren des
Schreckens zu vermitteln. Eine Ahnung zu geben, von den Schrecknissen des
NS-Regimes, eine Ahnung von den zerbombten Häusern und Einrichtungen, von der
Obdachlosigkeit der Bevölkerung, von ihrem Hunger und ihrer Angst. Eine Ahnung
vom Wahn eines Terrorregimes, das meinte, in den letzten Tagen noch eine
blutige Schlacht um Wien führen zu müssen oder in den letzten Tagen meinte, bis
in die letzten Tage hinein, Wehrmachtsdeserteure hinrichten zu müssen. Auch
Schreckensbilder dieser Art trage ich in mir. Aber sind sie vermittelbar?
Dann geht mir aber auch durch den Kopf, meine Damen
und Herren, dass Otto Binder, langjähriger Generaldirektor der Wiener Städtischen
Versicherung, Heimkehrer aus der Emigration in Schweden, noch wenige Wochen vor
seinem Tod heuer bei einer Enquete im Parlament sagte, es belaste ihn seit
50 Jahren, dass man Dinge der Vergangenheit mit dem Kopf von heute denke.
Das ist ein kluger Gedanke einer klugen Persönlichkeit, die den Verlust der
Demokratie in der Zwischenkriegszeit, die die Gräuel des NS-Regimes persönlich
erlitten hat. Und ich meine, der Gedanke mahnt zur Nachdenklichkeit, aber auch
zur Versöhnlichkeit.
Ich habe Verständnis für den Eifer der Jüngeren bei
der Suche nach Wahrheit und Schuld, sich einzusetzen, aber ich meine, man
sollte dieser älteren Generation nicht Kollektivschuld zusprechen. Man sollte
ihr die Redlichkeit eines Umdenkens generell nicht absprechen. Man sollte ihr
ihre Beheimatung in einer verfassungsmäßigen Demokratie nicht absprechen. Ich
glaube, Verbrechen wurden und werden im demokratischen Staat von ordentlichen
Gerichten und nicht primär von den noch so bemühten Historikern und Medien
geahndet und der Begriff "kollektive Schuld" ist – ich verweise auf
Viktor Frankl – ebenso unhaltbar wie natürlich der Begriff einer kollektiven
Unschuld.
Obwohl ich, meine Damen und Herren, das Kriegsende
schon bewusst erlebt habe, ist auch mein Vorstellungsvermögen fast überfordert.
Wie es beherzte Männer und einige wenige Frauen, denen die Zweite Republik ihre
Entstehung verdankt, physisch überhaupt schaffen konnten, in Zeiten der
lebensbedrohenden allgegenwärtigen Zensur, ohne Verkehrsmittel, ohne Telefon
sich zu verständigen, zu treffen und zusammenzukommen, um Parteien zu gründen
und mit diesen Parteien die Staatsgründung vorzubereiten.
Am 17. April 1945 wurde die Österreichische
Volkspartei im Schottenstift gegründet. Die Konstituierung der Sozialistischen
Partei erfolgte wenige Tage davor.
Schon in den Jahren 1940 und 1941, also mitten
im Krieg, war der Kreis um Lois Weinberger und Dr Felix Hurdes übereingekommen,
sich von den politischen Gliederungen in der Ersten Republik und im Ständestaat
zu lösen und nach dem Kriegsende, an das sie offenbar unverbrüchlich glaubten,
die Neugründung einer demokratischen sozialen Integrationspartei anzustreben.
In ähnlicher Weise löste sich die Sozialistische Partei von ihren vormaligen
innerparteilichen Richtungskämpfen und Spaltungen und am
24. April 1945 beschloss sie überdies in einer formellen
Trennungserklärung, dass es keine Koalition und keine Kooperation mit der
Kommunistischen Partei geben kann.
Meine Damen und Herren! Es ist meine feste
Überzeugung, ohne die österreichischen Parteien und ihre Neugründung hätte es
auch keinen österreichischen Staat geben können. Wir wären in ein Korsett
gepresst worden von Besatzungsmächten, die nicht unbedingt nur die Souveränität
eines neuen Österreichs im Kopfe hatten. Ich glaube daher, dass wir
Nachgekommene mit großer Dankbarkeit und mit großem Respekt feststellen können,
dass die Gründerpersönlichkeiten der Zweiten Republik von einer ungeheuren
Liebe zu Österreich beseelt waren, dass sie aus den bitteren und blutigen Erfahrungen
der Zwischenkriegszeit, des Krieges und aus dem “Geist der Lagerstraße“ die
Überzeugung gewonnen hatten, dass das Staatsziel ein demokratisches Österreich
sein soll und muss und dass gemeinsam nach Freiheit und Eigenständigkeit des
Landes gestrebt werden muss.
Das Wiener Rathaus stand im Frühjahr 1945 im
Zentrum der politischen Geschehnisse. Der sowjetische Militärkommandant
bestellte am 18. April 1945 - der Krieg war formal und faktisch noch
nicht zu Ende - General Theodor Körner provisorisch zum Bürgermeister und
Leopold Kunschak sowie Karl Steinhardt zu seinen Stellvertretern. Gleichfalls
vom sowjetischen Militärkommando wurde Ing Leopold Figl beauftragt, sich um die
Verpflegung der Wiener Bevölkerung zu kümmern, auf welche Weise, ich nehme an,
das blieb ungesagt. Mangel und Not waren unvorstellbar groß.
Es war gleichfalls im Wiener Rathaus, dass am
27. April 1945 durch die Vertreter von SPÖ, ÖVP und KPÖ die
Unabhängigkeit Österreichs von Deutschland proklamiert wurde. Die Zweite
Republik war geboren und damit war die Frage Anschluss, die vor dem Krieg so
tragische Wirren und Konsequenzen brachte, wohl endgültig erledigt. Dr Karl
Renner wurde über direkte Weisung Stalins von den Sowjets gesucht,
glücklicherweise auch gefunden und er wurde zum zweiten Mal in der Geschichte
des Landes Kopf einer provisorischen Regierung in einer neuen Republik.
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