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Gemeinderat, 54. Sitzung vom 22.05.2024, Wörtliches Protokoll  -  Seite 70 von 109

 

Feindseligkeit, es sind Vorurteile, es ist Diskriminierung, es ist Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden aus einem einzigen Grund: Weil sie Jüdinnen und Juden sind.

 

Antisemitismus reicht aber über diese Feindseligkeit gegen konkrete Personen hinaus. Antisemitismus dient als eine Form der Welterklärung, die Jüdinnen und Juden politisch, ökonomisch und sozial für unterschiedliche Prozesse verantwortlich macht, weil sie Jüdinnen und Juden sind. Antisemitismus hat historisch tiefe Wurzeln. Im Mittelalter wurden Jüdinnen und Juden als Sündenböcke für Krankheiten und für Kriege missbraucht, und im Laufe der Jahrhunderte gab es immer wieder Pogrome und Vertreibungen. Der Höhepunkt dieses Hasses zeigt sich im Holocaust, der systematischen Ermordung von mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Regime. Diese dunkelste Stunde der Geschichte sollte uns alle gemeinsam daran erinnern, wohin Antisemitismus führen kann.

 

Antisemitismus ist auch 2024 ein massives gesellschaftliches Problem. Egal aber, woher Antisemitismus kommt - von rechts, von links, von Islamisten, von Menschen mit Migrationshintergrund oder von Menschen ohne Migrationshintergrund -, Antisemitismus muss mit allen gesellschaftlichen und rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft werden und antisemitische Taten müssen klare Konsequenzen haben. (Beifall bei NEOS, SPÖ, ÖVP und GRÜNEN.)

 

Geschätzte Kolleginnen und Kollegen, Antisemitismus bedroht aber nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern die Grundlagen unseres demokratischen Zusammenlebens, das Fundament unserer Gesellschaft. Der Kampf gegen Antisemitismus muss in allen Lebensbereichen und in allen Politikfeldern geführt werden. Der Schutz jüdischen Lebens und das klare Bekenntnis zu Israel sind unverrückbare Bestandteile unserer Werte.

 

Antisemitismus zeigt sich in vielen unterschiedlichen Formen und speist sich aus vielen unterschiedlichen Ideologien. Rechter Antisemitismus basiert auf rassistischen, nationalistischen Ideologien, er zeigt sich in Verschwörungstheorien gegenüber Jüdinnen und Juden, die Jüdinnen und Juden für weltweite Probleme verantwortlich machen und gipfelt in Hassverbrechen. Er hat seine Wurzeln in der Geschichte des Nationalsozialismus, dessen schrecklichster Ausdruck der Holocaust war.

 

Linker Antisemitismus verkleidet sich oft als Antizionismus. Während legitime Kritik an der Regierung des Staates Israels natürlich berechtigt ist, überschreitet linker Antisemitismus die Grenze, wenn er das Existenzrecht Israels in Frage stellt oder die jüdische Gemeinschaft für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich macht. Diese Form des Antisemitismus finden wir oft in antikolonialistischen, antikapitalistischen, linken akademischen Kreisen.

 

Religiös motivierter Antisemitismus hat tiefe historische Wurzeln und ist auch tief in kulturellen und religiösen Traditionen verankert. Im Christentum reichen diese zurück bis zur mittelalterlichen Vorstellung, die Jüdinnen und Juden seien Christusmörder. Islamistischer Antisemitismus verbindet religiöse Motive mit politischen Ideologien. Er propagiert seinen Hass auf Jüdinnen und Juden, der oft gewalttätig zum Ausdruck kommt. Islamistische Gruppen nutzen antisemitische Rhetorik, um Feindbilder zu schüren und ihre politischen Ziele zu rechtfertigen.

 

Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie es mich ganz klar sagen: Der Kampf gegen Antisemitismus muss ein umfassender Kampf sein, ein Kampf gegen sämtliche Formen und sämtliche Ausprägungen des Antisemitismus. Es geht nicht um linken Antisemitismus, es geht nicht um rechten Antisemitismus, es geht nicht um islamistischen Antisemitismus, es geht um Antisemitismus. (Beifall bei NEOS, SPÖ, ÖVP und GRÜNEN.)

 

In der heutigen Zeit ist Antisemitismus eine massive Bedrohung für unsere Demokratie. Eine demokratische Gesellschaft basiert auf den Prinzipien der Menschenwürde, des Pluralismus und der Demokratie. Antisemitismus untergräbt all diese Prinzipien, indem er eine bestimmte Gruppe von Menschen entmenschlicht. Wenn wir also irgendeine Form von Antisemitismus tolerieren, dann gefährden wir die Grundlage unserer demokratischen Werte. Es ist unsere Pflicht, Antisemitismus, egal, woher er kommt, zu erkennen, zu benennen und ihm klar entgegenzuwirken. Das gilt nicht nur für die Politik, das gilt für alle Bereiche unserer Gesellschaft und unseres Zusammenlebens.

 

Ein Bereich, der im Zusammenhang mit Antisemitismus eine besondere Bedeutung verdient, ist Kunst und Kultur, insbesondere die damit verbundenen Kultureinrichtungen, und das hat viele Gründe. Einerseits müssen sich Kultureinrichtungen ihrer bedeutenden Rolle als Schauplätze gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung bewusst sein. Andererseits, wenn wir auf das Thema Kunst und Kultur blicken, stehen wir sehr rasch vor dem Grundsatz: Die Freiheit der Kunst ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie. Ich sage es immer mit Friedrich Schiller: Kunst ist eine Tochter der Freiheit.

 

Was aber heißt Freiheit in diesem Zusammenhang? Für mich als Liberaler ist diese Antwort klar. Freiheit ist immer untrennbar mit Verantwortung verbunden. Freiheit und Verantwortung - Freiheit und Verantwortung - sind zwei Seiten derselben Medaille, denn Freiheit ohne Verantwortung ist die Tyrannei des Stärkeren über den Schwächeren. Wer also von Freiheit der Kunst spricht, der muss auch von der Verantwortung der Kunst- und Kulturinstitutionen sprechen. Und es ist diese Verantwortung, diese Freiheit nicht zu missbrauchen, um Hass und Vorurteile zu verbreiten. (Beifall bei NEOS, SPÖ, ÖVP und GRÜNEN. - Ruf bei der ÖVP: Sehr gut!)

 

Diese Verantwortung ist es, die ich von allen Kulturinstitutionen erwarte, denn Kultureinrichtungen spielen eine wichtige Schlüsselrolle bei der Gestaltung unserer Gesellschaft. Kunst und Kultur und Kultureinrichtungen können sich den Diskursen, die wir führen, und den Haltungen, die wir einnehmen, nicht entziehen. Sie müssen ganz klar gegen jede Form von Antisemitismus Stellung beziehen, und das immer und ausnahmslos.

 

In diesem Zusammenhang begrüße ich auch sehr den Besuch von Milo Rau, dem Intendanten der Wiener Festwochen, bei uns im Kulturausschuss. Ja, ich bin mit vielem, was er nach unserem Gemeinderatsbeschluss vom 20. März in den Medien gesagt hat, nicht einer Meinung.

 

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